Hinschauen – Wegschauen

Friedrich der Große sagte einst: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“, was seinerzeit ein Meilenstein für Religionsfreiheit und Freiheit schlechthin war (Toleranzedikt vom 22.Juni 1740). Wir gewähren einander Freiheiten, sind tolerant, mischen uns nicht in die Angelegenheiten anderer ein und kümmern uns gerne ausschließlich um unsere eigenen Belange. Wenn jeder an sich selber denkt, ist ja an alle gedacht. Man möchte ja schließlich niemandem zu nahe treten. Kurz: wir schauen weg statt hin. Freiheit und Toleranz als „Deckmäntelchen“ für gelebte Gleichgültigkeit.

Dabei rät Jesus zu einem ganz anderen Umgang miteinander. In seinem Brief an die Gemeinde in Ephesus beschreibt Apostel Paulus, wie das Leben in der Gemeinschaft mit Christus aussehen sollte (Eph 2). Da ist von Ermahnung, Trost, Gemeinschaft, Liebe und Barmherzigkeit die Rede, wir sollen den anderen höher achten als uns selber und schließlich nicht auf die eigenen Interessen sehen, sondern auch auf das, was den anderen dient. Geht das, wenn wir die anderen gar nicht im Blick haben? Aus unserem Wegschauen sollte in Hinschauen werden: Wer braucht Ermahnung, Trost, Gemeinschaft, Liebe und Barmherzigkeit? 

Wenn wir nicht ermahnen, sehen wir tatenlos zu, wie sich andere in Fehler verstricken. Wie bitter muss es für diejenigen sein, die am Ende Fehler bereuen und erkennen müssen, dass viele zugesehen, aber nichts gesagt haben? Wer nicht getröstet wird, bleibt mit seinem Leid alleine. Wer nicht in Gemeinschaft lebt, vereinsamt, wird wo möglich noch nicht einmal vermisst, wenn er oder sie tagelang tot in der Wohnung liegen. Wer möchte in seinem Leben auf Liebe verzichten? Und wer ist nicht ohne Ende dankbar, wenn barmherzig mit Versagen umgegangen wird und sich neue Chancen auftun?

Wir Menschen sind auf Gemeinschaft ausgelegt und aufeinander angewiesen. Selbst wenn Freiheit in hohes Gut ist, sollten wir uns nicht die Freiheit nehmen, wegzuschauen. Toleranz ist nun mal nicht mit Wegschauen zu verwechseln.

Hinschauen ist angesagt!

Ulrich Keller