1.) Wiederaufrichtung des Apostolats
Zum Anfang des 19. Jahrhunderts kam es besonders im angelsächsischen Raum (England, Schottland, Irland) zu mehreren Gebets- und Erweckungsbewegungen in christlichen Gemeinden, besonders unter den Presbyterianern, den Independenten und den Kongregationalisten. Auch entwickelten sich verschiedene konfessionelle Strömungen und Gemeinschaften: Brüderbewegung (ab 1820 in Dublin) und die Heilsarmee (ab 1860 in London) wie auch die apostolische Bewegung. Die Erweckungsbewegungen dieser Zeit haben jeweils zu einem starken Anwachsen der engagierten Christen in der Bevölkerung geführt, aber auch zu einer weiteren Zersplitterung der Kirche. In manchen Fällen wurden dabei Kirchenferne angesprochen, in anderen Fällen Kirchenmitglieder ohne innere Beteiligung.
Es werden viele verschiedene Gründe für die Erweckungen in der Literatur zusammen getragen. Zum einen gesellschaftliche Faktoren als Folge der französischen Revolution und der damit zusammenhängenden Veränderung der politischen Systeme und Kulturen in Europa (Revolution und Restauration, Beginn der Industrialisierung) aber auch kirchlich- religöse (Bibelauslegung der Aufklärung, Verweltlichung der Kirche(n), Politisierung des Glaubens).
Wichtige Personen der Gebets- und Erweckungsbewegung in England um 1820 waren der englisch- anglikanische Priester James Haldane Stewart und der schottische Presbyterianer John McLeod Campbell. Stewart hatte Christen aller Konfessionen aufgefordert, gemeinsam um eine Ausgießung des Heiligen Geistes zu beten, damit sich Viele bekehren und so auf die Wiederkunft Christi vorbereiten würden.
Der englische Bankier und Parlamentssprecher Henry Drummond (1786 – 1860) rief 1826 auf seinem Landsitz Albury Park 44 Teilnehmer, darunter viele Geistliche verschiedener Konfessionen, zu einer achttägigen Gebetskonferenz zusammen. Mit James Haldane Stewart hatte er bereits früher die „Continental Society“ eine Missionsgesellschaft gegründet, die mit preiswerten Bibeln und Erbauungsliteratur die Erweckungsbewegung auf dem Kontinent fördern wollte. Sie sandte von 1819 bis 1834 viele Missionare u.a. Johann Gerhard Oncken aus, der 1834 in Hamburg die erste europäische Baptistengemeinde gründete. Die Albury Konferenz wurde bis 1830 fünfmal wiederholt. Einer der Teilnehmer war der anglikanische Londoner Rechtsanwalt John Bate Cardale (1802 – 1877), der 1830 auf einer längeren Reise mit seiner Frau und zwei Ärzten die geistlichen Ereignisse in Schottland, insbesondere während eines ganzen Monats bei der Familie MacDonald, untersuchte. Er verfassste darüber einen positiven Bericht in „The Morning Watch“, der seit 1829 bestehenden Quartalsschrift des Albury Kreises.
Seit dem Auftreten von Geistesgaben um die Brüder MacDonald im Frühjahr 1830 interpretierte man dies im Albury Kreis als die „Ausgießung“. Wie weitere Verbreitung des Geistes und die Bekehrung vieler Völker blieb bzw. stand jedoch noch aus. Der Pfarrer der Londoner Gemeinde der Schottischen Nationalkirche, Edward Irving (1792 – 1834), der ein Unterstützer Campbells und Liebling der Londoner Society war, scharte wegen seiner guten Predigtgabe tausende Menschen um sich. Auch unter diesen kam es zu Geistesgaben, die Irving nach anfänglichem Zögern in seiner Gemeinde zu ließ. Inhalt der prophetischen Äußerungen und der Predigten bei Irving, Stewart, Campbell und anderen war ab etwa 1830 die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, die Lehre von der Wiederkunft Christi und damit verbundene Endzeiterwartungen ebenso wie die Wiedererweckung geistiger Gaben in der Kirche. In Irvings Gemeinde wartete man ab 1832 darauf, dass sich innerhalb von dreieinhalb Jahren gemÃäß der „Zwei Zeugen“ aus Offenbarung 11 durch die bereits ausgeübten Geistesgaben die Bekehrung Vieler ereignen würde. Auch John Bate Cardale hielt sich ab 1832 zur Gemeinde Irvings.
Aufgrund der Thematik seiner zahlreichen Veröffentlichungen insbesondere zum „Wesen Christi“ geriet Irving in Konflikt mit seiner Kirchenführung, die ihn am 2. Mai 1832 vom Predigtdienst ausschloss. Er arbeitete danach wie wohl auch andere ausgeschlossene Mitglieder des Albury- – Kreises als „freier Prediger“ weiter. Zu dieser Zeit machte Irving sich auch Gedanken über das Apostelamt, das er als charismatische Begabung verstand. Im Juni 1832 veröffentlichte er seine Meinung, dass es schon bei den Uraposteln zu einer Fehlentwicklung gekommen sei, als diese sich „Ordnungen“ (ordinances) aufbürdeten, die die freie Entfaltung der Geistesgaben behindern würden. Im April 1833 stellte er in einem Brief an Henry Drummond die Stimme des Heiligen Geistes über alle Ordnungen. Auch die anderen biblischen Gaben des Propheten, des Evangelisten und Hirten nach Epheser 4 verstand er nicht im Sinne einer Hierarchie. Er sah im Apostel und den anderen charismatischen Ämtern Amtsträger einer Gemeinde, die dem Vorsteher der Gemeinde unterstellt waren.
Am 20. Oktober 1832 wurde Henry Drummund in Albury durch prophetisches Wort zum Hirten einer dieser freien Gemeinden gerufen, übte dieses Amt jedoch nicht aus, da seiner Meinung nach die gültige Ordination fehle. Am Mittwoch dem 31. Oktober oder wahrscheinlicher am Mittwoch dem 7. November 1832 wurde John Bate Cardale erstmals in einer Gebetsversammlung in einem Privathaus durch Oliver Taplin als Apostel mit den Worten „Bist du nicht ein Apostel? Tue eines Apostels Werk!“ angesprochen. Es gibt unterschiedliche Berichte über dieses Geschehen, nach denen es auch sein kann, dass Henry Drummond die Rufung vornahm und nicht Taplin. Cardale verhielt sich vorsichtig, ihm war die Anerkennung durch die Gemeinde wichtig. Durch weitere prophetische Worte veranlasst führte er dann jedoch am 24. Dezember 1832 seine erste Amtshandlung, die Ordination des Predigers Caird zum Evangelisten und einen Tag später die Ordination Drummonds zum Hirten, durch. Damit zeichneten sich erste Schritte zum Aufau einer Kirche unter Aposteln ab. Denn am 5. April 1833 wurden in einem dreistündigen Gottesdienst zunächst Oliver Taplin ins Prophetenamt ordiniert und anschließend Edward Irving, der am 13. März endgültig aus der seiner schottischen Nationalkirche ausgeschlossen worden war, zum „Engel“ (=Bischof) seiner Gemeinde. In diesem Gottesdienst hatte es auch durch prophetische Äußerungen wichtige liturgische und organisatorische Hinweise zum Aufbau der Gemeinden gegeben. Bemerkenswert ist, dass die ersten drei Ordinationen Cardales solche in charismatische Ämter waren (Caird – Evangelist, Taplin – Prophet, Drummond – Hirte). Mit der Ordination Irvings in ein Leitungs- statt ein Charakteramt verließ der Kreis seine bisherigen Vorstellungen, dass das Apostelamt dem Engelamt unterstellt sei. In der recht kurzen Zeit von etwa einem Jahr hatten sich offenbar die Endzeitvorstellungen verschoben, denn Cardale wird später über diese Zeit schreiben, dass das Apostelamt auch mit weiteren Personen außer ihm für die Kirche wiedererrichtet werden sollte und es Leitungsfunktionen für die ganze Kirche übernehmen sollte. Er selbst hatte wohl ein eher traditionelles Verständnis einer kirchlichen Hierarchie mit einem Leitungsamt mit Ordinations- und Lehrvollmacht. Edward Irving verstarb am 8. Dezember 1834 auf einer Reise nach Schottland. Seine Vorstellungen wurden dann in der Folge in den Gemeinden abgelegt. Lange Zeit wurden seine Anhänger und die Gemeinden, die aus dem Albury – Kreis entstanden sachlich falsch als „Irvingianer“ bezeichnet. In London entstanden sieben Gemeinden aus dem Albury – Kreis, die in Analogie zu der Siebenzahl der Offenbarung als ein Bild der Ökumenischen Gesamtkirche gesehen wurden. In den Jahren 1833 – 1835 wurden elf weitere Männer, meist durch Oliver Taplin, zu Aposteln gerufen:
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- Henry Drummond (25.09.1833, Bankier, Anglikaner),
- John Henry Kingchurch (18.12.1833, Beamter, Kongregationalist),
- Spencer Perceval (14.12.1833, Parlamentsmitglied, Anglikaner),
- Nicholas Armstrong (18.01.1834, Kongregationalist, Geistlicher),
- Francis Valentine Woodhouse (13.08.1834, Jurist, Anglikaner),
- John Owen Tudor (18.02.1835, Verleger, Anglikaner),
- Henry Dalton (04.03.1835, anglikanischer Geistlicher),
- Thomas Carlyle (01.05.1835, Anwalt, Presbyterianer),
- Francis Sitwell (20.05.1835, Hauptmann, Anglikaner),
- William Dow (03.06.1835, presbyterianischer Geistlicher),
- Duncan McKenzie (14.07.1835, Presbyterianer).
Duncan McKenzie wurde nicht prophetisch gerufen, sondern per Los bestimmt, weil der Bruder von William Dow, David Dow, sich geweigert hatte, seine Apostelrufung anzunehmen. Es fällt auf, dass unter den Aposteln sowohl Geistliche wie auch Laien waren, dass sie verschiedenen Konfessionen entstammten und dass die Zwölfzahl nach dem 1840 erfolgten Rückzug McKenzies faktisch nicht mehr bestand.
Am Tage der Rufung des 12. Apostels, am 14. Juli 1835, wurden die zwölf Männer in London durch die „Engel“ der sieben Gemeinden in einem feierlichen Gottesdienst ausgesondert. Dies bedeutete weder eine Übertragung von Autorität noch eine Ordination, sondern die Freistellung der Ausgesonderten vom örtlichen Gemeindedienst zugunsten eines ungeteilten Wirkens in der universellen Kirche. Es ist sehr auffällig, dass dieser 14. Juli exakt mit dem Tag übereinstimmte, der nach Weissagungen aus dem Jahr 1832 genau mit den dreieinhalb Jahren der Erwartung der „Bekehrung Vieler“ zusammen fiel.
Zunächst zogen sich die Apostel auf Anweisung „des Geistes“ für ein Jahr nach Albury zurück, um sich auf die Sendung für die Gesamtkirche vorzubereiten. Die Beratungen führte Cardale, der als erstberufener Apostel auch „Pfeiler“ genannt wurde. Analog gab es für die anderen Ämter jeweils als „primus inter pares“ seiner „Amtsklasse“ einen Pfeiler- Propheten, Pfeiler- Evangelisten und Pfeiler- Hirten. Begleitet wurden die Apostel durch sieben Propheten, nämlich die Propheten des „Council of Zion“. Dieser Rat stellte das organisatorische Leitungsorgan der Gemeinden dar.
In den Beratungen wurden die Autoritäten und Funktionen des prophetischen und apostolischen Amtes voneinander abgegrenzt . Aufgabe der Propheten war es Licht auf die Teile der biblischen Berichte zu werfen, die geistliche Geheimnisse in symbolischer Form enthielten. Die Apostel sollten die Lehre feststellen und über sie wachen, ebenso das prophetische Licht deuten und auslegen. Eine konkrete Vorstellung der Aufgaben eines Apostels existierte jedoch zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht, sondern entwickelte sich erst später. Noch im Jahr 1835 verfasste jeder Apostel Aufsätze über die kirchliche und politische Situation, die Cardale zu einer gemeinsamen Erklärung zusammenfügte. Diese wurde König William IV und seinem geheimen Staatsrat überreicht. Weiterhin wurde ein Zeugnis für die Kirche von England und Irland verfasst. Von 1836 bis 1838 schrieben die Apostel ihr „Zeugnis an die Patriarchen, Erzbischöfe, Bischöfe und anderen Vorsteher der Kirche Christi in allen Landen und an die Kaiser, Könige, Fürsten und anderen Regenten der getauften Nationen“. Diese umfangreiche Denkschrift, auch „Testimonium“ genannt, erschien in englischer, französischer, deutscher und lateinischer Sprache. Sie wies auf die nahende Endzeit und die Verderbtheit der Christenheit hin. In einem eindringlichen Appell wurden die Mächtigen beschworen, auf das Zeugnis der Apostel zu hören und die Reform der Kirche durch die Wiederherstellung des Apostelamtes als Quelle der Lehre, Zentrum der Autorität und Einheit der sichtbaren Kirche anzuerkennen. Die junge Bewegung wollte sich nicht von den bestehenden Kirchen abspalten, sondern eine gesamtchristliche Erneuerungsaufgabe übernehmen.
Volker Wissen, November 2009
Quellen- und Literaturangabe:
Manfred Henke, „Vor 175 Jahren: Die Rufung John Bate Cardales und das zeitgenössische Verständnis vom Apostelamt“, Dezember 2007 Hutten
Kurt, „Seher, Grübler, Enthusiasten“, Stuttgart 1982
Helmut Obst, „Apostel und Propheten der Neuzeit“, Berlin 1990
Vereinigung Apostolischer Gemeinden, „Was wir glauben, Bd. 2“, Flamatt 1990
Wikipedia: Stichwort „Katholisch – apostolische Gemeinden“, Version vom 06.10.2009